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Nr. 2
Quintessenz
22. März 2020

Risiko

Leben ist immer lebensgefährlich, stellte schon Erich Kästner fest. Auch deshalb ist die Risikoeinschätzung so wichtig. Da wir Menschen gelernt haben, linear zu denken, können viele sich eine exponentielle Virusverbreitung nur schwer vorstellen. Exponentielle Entwicklungen lassen sich anhand der berühmten Anekdote mit dem Schachbrett und den Reiskörnern erklären oder am Beispiel eines Fußballstadions, in das alle zwei Sekunden die doppelte Menge Wasser tropft – erst ein Tropfen, dann zwei, vier, acht und so weiter. Wie lange dauert es, bis das Stadion voll ist? – Keine zehn Minuten. Zu wenig Zeit, um sich in Ruhe auf eine Virusepidemie vorzubereiten.

 

Seitdem mir die bedrohliche Lage des Corona-Virus bewusst wurde, habe ich ähnliche Empfindungen wie nach den Anschlägen vom 11. September 2001, die ich seinerzeit in Washington erlebt habe. Wenn ich jedoch diese und andere Krisen in der Geschichte mit der derzeitigen vergleiche, fallen mir im Wesentlichen vier Besonderheiten auf:

 

  1. Früher gab es Naturkatastrophen, Unglücke oder Terroranschläge, die die Menschheit ex post zu verarbeiten hatte. In der Corona-Krise steuern wir jedoch erst langsam, dann beschleunigt und fast unabwendbar auf eine Katastrophe zu, als würden wir ex ante zwar wissen, dass in einem absehbaren Zeitraum einige Flugzeuge abstürzen, uns jedoch weder die genauen Zeitpunkte bekannt sind noch um wie viele Flugzeuge es sich dabei handelt und wie viele Menschen dabei ihr Leben verlieren. Ein anderes Bild mag dies vielleicht noch mehr verdeutlichen: Ich fühle mich derzeit, als wenn uns Weltraumforscher mitgeteilt hätten, dass ein Asteriod auf die Erde zu rast, wir jedoch nicht wissen, ob wir uns zu diesem Zeitpunkt gerade auf der Seite unseres Planeten befinden, wo der Meteorit aufschlägt, oder nicht.

  2. In diesem kosmischen Drama müssen sich die Menschen zudem im Unterschied zu früher in körperlicher Distanzierung üben. Ganz entgegen unserem Instinkt und Bedürfnis können wir die insbesondere in Krisenzeiten oder bei der Trauerarbeit so wichtige Nähe ausschließlich in virtueller Form praktizieren. Unser Leben wird sich noch mehr ins Internet verlagern. Die Digitalisierung wird sich dadurch beschleunigen. Das Online-Geschäft wird explodieren. Unternehmen stellen zunehmend um auf Homeoffice. Bildungseinrichtungen, wie Schulen und Universitäten, werden ihr Lehrangebot und ihre Wissensvermittlung noch stärker als zuvor ins Internet verlagern. Kirchen werden Wege finden müssen, um einen digitalen Zugang zu Gott zu ermöglichen. Das bevorstehende Osterfest wird ein erster Prüfstein sein – nicht nur in Rom, der Hauptstadt des Landes, das im Moment am meisten unter dieser Pandemie leidet. Die nächste Tragödie ist in den USA zu erwarten. Wir blicken mit großer Sorge auf unsere zweite Heimat, die mit ihrem Gesundheits- und Sozialsystem bei weitem nicht so gut auf die Herausforderungen vorbereitet ist wie Deutschland, von der politischen Führung ganz zu schweigen. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass, nachdem die letzte US-Präsidentenwahl teilweise von fragwürdigen Methoden im Internet beeinflusst wurde, die diesjährige Wahl wahrscheinlich maßgeblich von einem unsichtbaren Virus bestimmt wird. Ich wäre nicht überrascht, wenn China im Laufe der nächsten Monate den USA ihre Hilfe bei der Bewältigung der Corona-Krise anbieten würde. Auch dieses Bild würde die Machtverschiebung von der westlichen zur östlichen Hemisphäre widerspiegeln.​

  3. Ungeachtet der von vielen Menschen empfundenen Hilflosigkeit, kommt es aber gerade bei dieser Krise darauf an, dass jeder Einzelne durch sein Verhalten dazu beiträgt, die negativen Auswirkungen und das persönliche Leid möglichst zu begrenzen. Dem eigenen gefühlten Kontrollverlust müssen wir durch ganz persönliches Krisenmanagement begegnen. Routinen, wie morgendliche Meditationen mit klassischer Musik und lebensphilosophischen Texten, sportliche Aktivitäten sowie Klavierspielen und Teezeremonien am Nachmittag gehören für Andrea und mich genauso dazu, wie regelmäßige Gespräche und Diskussionsrunden via Internet mit unseren Kindern, anderen Familienmitgliedern und Freunden. All dies soll uns helfen, mit diesen Herausforderungen umzugehen, aber uns auch klarmachen, wo und wie wir uns selbst für unsere Nächsten und die Gemeinschaft einbringen können.

  4. Es scheint ein trade-off zwischen der Anzahl menschlicher Opfer und der Aufrechterhaltung des wirtschaftlichen Lebens zu bestehen. Konkret heißt das: Gilt für die politischen Entscheidungsträger der Primat der Minimierung der Todesfälle, so müssen sie die Mobilität der Menschen und damit die wirtschaftlichen Aktivitäten auf ein Minimum einschränken. Versuchen die Politiker jedoch einen wirtschaftlichen Kollaps mit entsprechenden negativen finanziellen Konsequenzen zu vermeiden, wäre eine Verkürzung der Krisendauer sinnvoll, was allerdings einen hohen Blutzoll bedeuten dürfte. Zudem müssen sie die Belastungsfähigkeit des Gesundheitssystems, aber auch des Sozial- und Finanzsystems im Auge behalten. Beim Austarieren dieser zum Teil gegensätzlichen Ziele ist hohe Staatskunst gefragt.​

 

Durch und in der Corona-Krise werden wir an alte Weisheiten erinnert, aber auch zu der einen oder anderen neuen Erkenntnis kommen. Dabei wird sich die Aussage von Martin Luther King, Jr, erneut bewahrheiten: „The ultimate measure of a person is not where they stand in moments of comfort and convenience, but where they stand at times of challenge and controversy.“ Der Ausdruck Quarantäne wurde von der lateinischen Zahl 40, quadraginta, abgeleitet. Das Brauchtum der vierzigtägigen Abgeschiedenheit lässt sich bis auf das 3. Buch Mose des Alten Testaments zurückführen. Für die Überwindung der Corona-Krise werden wir vermutlich länger brauchen.

Quintessenz würdigt den Grundsatz des ehemaligen US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower:

„Was nicht auf einer einzigen Manuskriptseite zusammengefasst werden kann, ist weder durchdacht, noch entscheidungsreif.“

© Dr. Rüdiger C. Sura

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